Ein Nachmittag mit Rita

Vor kurzem traf ich Rita. Wer Rita sieht, kommt nicht auf die Idee, dass sie in Rente sein könnte. Eine schlanke, agile, fröhliche Frau mit einem frechen Kurzhaarschnitt sitzt mir im Café gegenüber. Rita hat in den 1970er Jahren eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester gemacht und viele Jahre auf der Kinderintensivstation gearbeitet. Dort hat sie viele Kinder beim Sterben begleitet.

Eine so wertvolle Arbeit; aber sicher werden sich viele fragen: Wie kann man diese Arbeit nur Tag für Tag aushalten? Auch Rita wurde diese Frage oft gestellt, und sie hat Antworten, die zeigen, wie wichtig die eigenen Ressourcen und Kraftquellen gerade in der Sterbe- und Trauerbegleitung sind, aber auch wie wichtig, sie überhaupt für uns alle sind. Ein bewegendes Gespräch mit einer beeindruckenden Frau.

„Wie hälst Du diese schwere und traurige Arbeit eigentlich aus? Wie machst Du das?“ Das sind Fragen, die Rita immer wieder gestellt bekommen hat. Und ihre Antwort darauf lautet: „Das ist eine gute Frage, das muss man wirklich lernen, sonst geht man ein.“ Das Wort Selbstpflege spielt dabei für Rita eine große Rolle. Die Möglichkeit für sich selbst gut zu sorgen, sich zu pflegen ist etwas, was Rita für unabkömmlich hält, um diese Arbeit zu machen.

Zwei weiße Blüten der Königin der Nacht.
Foto: Carmen Mayer

Sie hat für sich selbst viele verschiedene Formen der Selbstpflege gefunden, eine war, dass es für sie wichtig ist, im Heute zu leben, denn niemand weiß, wann die letzte Stunde schlägt. „Lebe jetzt. Heute ist heute. Was morgen ist, weißt du nicht“, sagt sie. „Schließlich ist der Tod nicht ans Alter gebunden, deshalb: Tue jeden Tag etwas Gutes für Dich; z. B. lies ein kleines Gedicht. Wenn das Wetter schön ist, freu Dich über eine Blume, dass die Sonne scheint, dass der Himmel blau ist. Wenn der Tag grau ist und es regnet, freu Dich über das Lächeln, das Dir ein anderer Mensch entgegenbringt.“

Eine weitere Ressource war für Rita ihr täglicher Heimweg von der Arbeit nach Hause. Den nutzte sie als Ritual, um die Arbeit hinter sich zu lassen. Sie erzählt dazu: „Ich hatte so eine halbe Stunde Weg nach Hause. Da ich immer mit der U-Bahn unterwegs war, musste ich mich nie auf den Verkehr konzentrieren und konnte in dieser halben Stunde dann meinen Dienst Revue passieren lassen. Das habe ich gebraucht, diesen Weg, um dann zu Hause abzuschalten.“

Außerdem hatte Rita als Ausgleich zur Arbeit lange Zeit das Singen in einem Chor. Das war ihre Hauptressource. Jeden Montagabend hat sie ihr Hobby gepflegt und ging zur Chorprobe. „Das war sehr intensiv. Da musstest du sehr konzentriert sein. Es war Musik angesagt und es gab keine Zeit zum Nachdenken. Nach der Chorprobe kam ich raus und dachte, ich muss weiter üben, denn unser Kantor war sehr streng. Und so habe ich mir auch noch eine Musiklehrerin gesucht und bin jeden Mittwoch nach der Arbeit mit meinen Noten zu ihr“, berichtet Rita.

Eines Tages aber änderte sich alles und ihr wichtigstes Hobby brach von einem Tag zum anderen weg. Sie hatte ein Sängerknötchen, das weggelasert werden sollte und das ging leider schief: Sie konnte ein viertel Jahr lang nicht mehr sprechen, die Stimme war weg. „Meine Stimme war nicht mehr zu gebrauchen. Das war ein Schock für mich. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr verständigen. Da flossen Tränen. Da war ich so traurig“, erzählt sie. Die Berufsunfähigkeit stand schon im Raum. Aber aufgeben, das ist nichts für Rita. Sie hat sich eine Logopädin gesucht, weitere Alternativen zur Medizin und durch Zufall auch ein neues Hobby gefunden – das Bauchtanzen. Bereits vor der Laser-OP hatte sie eine arabische Bauchtänzerin kennengelernt, und als sie jetzt nicht mehr singen konnte, dachte sie: „Singen ist hin. Vielleicht solltest du dich mal bewegen. Ich hab`s getan.“ So wurde der Bauchtanz Ritas neue Ressource.

Schließlich verbesserte sich ihre Stimme immer mehr und irgendwann war die Stimme wieder da. Sogar Singen konnte Rita wieder und da sie beide Hobbies, Singen und Bauchtanzen, nicht schaffte, ging sie ein letztes Mal zu ihrem Chor, stellte sich an ihren alten Platz und sang das Weihnachtsoratorium mit. „Ich wollte es mir selbst beweisen“, erzählt sie. „Meine Stimme, ich fühlte mich wie ein junger Gott. Ein wunderbarer Abschluss für mich.“

Bauchtanzen ist bis heute Ritas Leidenschaft. Es macht ihr viel Spaß. Sie strahlt über das ganze Gesicht, wenn Sie davon erzählt und sagt zu mir: „Weißt Du, wir lachen auch so oft, weil wir manchmal komisch aussehen, wenn wir üben. Lachen tut gut.“

Viele Stunden später sitze ich noch immer mit Rita im Café und lausche ihren bewegenden Geschichten. Sie hat viel zu erzählen, sie könnte ein ganzes Buch füllen. Zum Abschied winkt sie mir fröhlich zu und ruft: „Bis bald“ und dann ist sie verschwunden.